Wie
wahrhaftig ist die Realität, was ist Schein, was Sein? Eine
Frage, mit der sich Paul Watzlawick bereits Mitte der 1970èr Jahre auseinandersetzte. In seinem 1976 erschienenen Buch „How
Real is Real“ (dt. „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“)
argumentierte der berühmte Psychologe und
Kommunikationswissenschaftler, dass es keine unverfälschte
Wirklichkeit gibt, sondern diese stets das Ergebnis
zwischenmenschlicher Kommunikation ist. Eine durch Wahn,
Täuschung und Verstehen manipulierte Realität. Seit der
US-Präsidentschaft von Donald Trump wird dieses Thema nicht nur
in der Politik verstärkt diskutiert. Auch im Musikgeschäft gehört
Manipulation längst zum Alltag, weiß Sigi Busch. Der Komponist
und Kontrabassist steht seit fünf Jahrzehnten auf den Bühnen der
Welt, darüber hinaus hat
er zahlreiche musikalische Lehrbücher verfasst. Er will seinen
Albumtitel „How Real is
Real“ mit einem Augenzwinkern verstanden wissen.
„Von der Stimmkorrektur bis zum Timing kann man in den Tonstudios nahezu
alles aufhübschen, so dass selbst untalentierte Musiker und
Sänger am Ende ganz passabel klingen. Mit meinem Quartett BuschMusic
vertrete ich den gegensätzlichen Ansatz. Bei unserem Album
beträgt der Realitätsfaktor rund 99 Prozent. Wir haben es
komplett live eingespielt und nur minimalste Veränderungen
vorgenommen - bei der Auswahl der Mikrofone etwa oder bei
einem meiner Soli, das wir etwas gekürzt
haben“,
blickt Busch auf den Produktionsprozess des Albums zurück.
Seine
Band „BuschMusic“ ist eine musikalische Wiederauferstehung. Bereits Anfang der 1990‘er
Jahre hatte er das Ensemble ins Leben gerufen. Damals bestand
das Repertoire ausschließlich aus Stücken jüdischer Komponisten,
die in der pulsierenden Berliner Cabaret-Szene der 1920’er Jahre
verwurzelt waren. In den Jahren danach war der Wahl-Bremer mit
diversen anderen musikalischen Projekten und mit seiner
Professur an der Universität der Künste in Berlin beschäftigt,
so dass die Band eine kreative Pause einlegte. Bis Busch im Jahr
2011 in den Nordwesten der Republik zurückkehrte und in ihm der
Wunsch aufkeimte, das Ensemble mit Musikern aus der Region zu
reaktivieren. Dabei fiel seine Wahl auf den Saxofonisten Dirk
Piezunka, den Gitarristen Martin Flindt und den Schlagzeuger
Christian „Hille“ Klein. Die Chemie zwischen dem inzwischen
75-jährigen Namensgeber und seinen Spielgefährten stimmte
sofort. Zudem fanden die Jüngeren es reizvoll, auf musikalische
Spurensuche zu gehen. „Als Sigi mich fragte, ob ich bei BuschMusic
einsteigen möchte, habe ich mich sehr geehrt gefühlt“,
erinnert sich der Oldenburger Gitarrist Martin Flindt und
erklärt: „Sigi ist ein sehr gebildeter, politischer Mensch. Eine bürgerliche
Künstlertype im besten Sinne. In seinen Kompositionen
verarbeitet er viel von dem, was er erlebt hat und was er
sieht – auch aus anderen Kunstrichtungen. Und er hat einen
bisweilen etwas knarzigen Humor, den er in dadaistisch
anmutenden Abschnitten unter Beweis stellt.“
Die
meiste Zeit jedoch dominieren klangvolle Passagen auf „How
Real
is Real“. Immer wieder sorgen Busch und seine
Spielgefährten aber auch für rhythmische Überraschungsmomente.
So wie in „Via Augusta“ oder „Fahrradfahren
im
Havelland“. Letzteres lässt Buschs Vorliebe für
ausgedehnte Touren auf zwei Rädern bereits im Titel erkennen. „Als
ich
noch in Berlin lebte, bin ich oft durchs Havelland gefahren -
und auf einer dieser Touren ist mir dieses Melodiefragment
eingefallen. Dass es im 5/4-Takt notiert werden musste, habe
ich erst hinterher bemerkt. Zum Glück: Wenn ich versucht
hätte, dazu im Takt zu strampeln, wäre ich wohl schnell vom
Sattel gekippt“, schmunzelt Busch. Auch „Via Augusta“ bezieht sich auf eine ausgedehnte Fahrradtour, die
Busch auf der historischen Römer-Route
von Donaueschingen über die Alpen nach Venedig führte. „In dieser Komposition haben wir zwei Grooves verarbeitet. Der erste
langsamere Teil steht für die beschwerlichen Bergauf-Passagen,
der schnellere, lateinamerikanisch anmutende für das
beschwingte Bergab, als wir den Reschenpass hinter uns
gelassen hatten.“
Inhaltlich
hat sich der Fokus des Quartetts deutlich verschoben. Zwar
findet sich mit „Liebling
mein Herz lässt dich grüßen“ auch eine neu-arrangierte
Songperle aus der Feder des deutsch-jüdischen Komponisten Werner
Richard Heymann auf „How
Real is Real“ wieder.
Alle anderen Stücke sind Eigenkompositionen, die sich im
Laufe der vergangenen Jahre angesammelt haben. Darunter befinden
sich großartige Kompositionen wie „Sweet
Potato“ mit einem geradezu hymnischen Charakter. Diesen
verdankt es vor allem Saxofonist Dirk Piezunka, der hier zum
herrlich-röhrenden
Bariton-Saxofon greift. „Ein
grandioser, zupackender Sound. Fröhlich-feierlich in der Anmutung, expressiv im Ausdruck. Ein Stück, das pure Lebensfreude
versprüht und dazu einlädt, mit dem Fuß zu wippen“,
unterstreicht Busch, dem mit der Wiedererweckung von BuschMusic ein genialer Coup gelungen ist. Als Schlusspunkt
seines musikalischen Schaffens will er das Album nicht
verstanden wissen - allenfalls als „vorläufiges Resümee.“
Auch
Gitarrist Martin Flindt hofft auf weitere Alben in der
Besetzung. „Das Quartett bildet eine spannende Mischung aus Großzügigkeit und Humor
auf der einen Seite, sowie Ehrgeiz und nahezu unerschöpflichen musikalischen Möglichkeiten auf der anderen. Eine Kombination,
wie man sie heutzutage selten findet“,
so Flindt.
Oder - um Bezug auf den Albumtitel zu nehmen: eine Band mit ganz viel „Sein“ und wenig „Schein“.